Hunger
Nach meinem Horoskop, das ich in der Nacht gelesen habe, steht mir in etwa einer Woche eine Hungerperiode bevor. Ich mag Hunger eigentlich ganz gern, weil einem dann besonders Fleischgerichte gut schmecken. Aber gleich eine ganze Periode? Gerate ich vielleicht bei meinem nächsten Versuch, in den Eurotunnel zu gelangen, in Polizeigewahrsam, und den Behörden gehen die Vorräte aus, weil wir unerwartet viele sind? Aber in Mitteleuropa sollte so eine Panne doch spätestens nach einem Tag behoben sein. Oder kriege ich eine Krankheit, die von ständigem Hungergefühl begleitet ist? Oder gehörte dieses Horoskop zu einem Online-Spiel, an dem ich gar nicht teilnehme? Ich weiß nicht mehr, wo ich es gelesen habe. Ich beschließe jetzt, in einer Woche wieder eine Schlankheitskur anzufangen. Die ist sowieso fällig, weil ich mich ganze zwölf Kilo von meinem Idealgewicht entfernt habe (nach oben), und so kann ich diese Hungergeschichte zumindest selbst steuern.
Zeit der Pfirschichblüte
Praktisch die ganze Vorderwand des Hauses ist fürs Hereinlassen gebaut. Man könnte die Pfirsichblüte im Tal bewundern, aber wann kommt man dazu. Das Fenster im Erdgeschoß liegt kaum überm Gras und ist hoch. Wer sich von der Wiese mit leichtem Zehendruck auf den Sims wippt, der kann geraden Rückens und mit angelegten Armen nach innen kippen. Männer mit zu eng geknoteten Krawatten oder zu ehrgeizig gestärkten Vorhemden stolpern in Scharen vom Berg gegenüber ins Tal und klettern dann keuchend zu meinem Haus herauf. Sie wissen, dass ich drinnen warte, das Rasiermesser fest in der Hand. Sie zielen beim Kippen genau auf die Klinge, das müssen sie mir glauben, und befreien sich so von ihrer Eingeschnürtheit. Ein paar Blutstropfen dann und wann, aber keine ernsthaften Verletzungen. Während ich weiter das Rasiermesser halte – es könnte ja schon der nächste im Fenster stehen – rappeln sie sich auf und huschen nach hinten, wo es heller wird, wo die Wände wohl schon abgetragen wurden. Ich, der einsame Bewohner des Hauses, weiß davon am wenigsten. Zwei Stunden haben die Männer noch bis zum Pass.
Aufgaben
Meine kleine Stadt betraut mich jetzt zunehmend. Vor drei Monaten kniete um fünf Uhr früh der Kämmerer neben meinem Bett: Leere die Körbe! bat er eindringlich. Ich lege Säuglinge auf meine rechte Hand, Welpen auf die linke, beim Zwiebelturm ändere ich die Flugrichtung. Er ist schon blankgewetzt von meinem Schlafanzug und spiegelt den Mond intensiver als früher. Die Säuglinge bringe ich ins Säuglingsheim, die Welpen ins Tierheim, die leeren Thunfischdosen werfe ich in den Fluss, in dem ich danach meine Hände wasche. Oft bluten sie, weil das Blech so scharf ist, aber ich benutze keine Handschuhe, weil wenn schon denn schon. Die Müllcontainer erledigt weiterhin die Firma Kovac. Manchmal ist aus ihnen ein Klopfen zu hören, aber sind Müllcontainer Körbe? Nein. Ich wollte den Kämmerer fragen, aber er ist im Urlaub und hat keine Vertretung, denn die Stadt spart.
Editor’s Note: This story is part of SmokeLong‘s Global Flash Series. The English translation is below.
Entrusted: a Triptych
Translated by Christopher Allen
Hunger
My horoscope, the one I read last night, says in about a week I’m in for a stint of hunger. I like hunger pretty well actually. Meat dishes afterward taste so nice. But a whole stint? What if my next attempt lands me in the Eurotunnel, in police custody, and the authorities run out of provisions for the unexpected masses? But this is Central Europe, where glitches like this are sorted in a day at the latest. Or maybe I’ll contract a disease accompanied by a constant craving. Or maybe this horoscope is part of an online game, one I’m not even playing. And now I can’t remember where I read it. No matter. I’ve decided to go on a diet next week anyway – twelve kilos heavier, I’m overdue – so at least I can take this business of hunger into my own hands.
The Time of Peach Blossoms
The front wall of my house is practically one long open mouth. I could marvel at the peach trees blooming in the valley, but who has the time? The ground-floor window starts at grass and ends so high. Any man could fall in from the lawn, toeing the sill slightly, straight-backed, hands on thighs, rocking. And men do. They come in droves from the mountain across the valley, panting, climbing to my house in their strangling ties and their ambitiously starched dickeys. They know I’m waiting inside with a straight razor readied. Falling, they aim right for the blade – you must believe this – to free themselves from the ties that bind them. A few drops of blood fall, nothing serious. As I still hold the razor – the next man could be waiting at the window – the men pick themselves up and scamper to the back of the house where it’s brighter, where the walls have been carried away – maybe. I, the lonesome dweller in this house, am always the last to know these things. The men have a two-hour walk to the pass.
Chores
My town entrusts me with more and more tasks. Three months ago the city treasurer knelt at my bed at daybreak and shouted Empty the hampers! These days, I lay babes on my right hand, pups on my left, soar and whip round the onion tower, so polished by my pyjamas now that it mirrors the moon much brighter than before. I bring the infants to an orphanage, the dogs to the shelter. I throw empty tuna tins in the river, wash my hands in its ripples. I often cut my fingers on the jagged tin, but I don’t wear gloves. If you’re going to do a task, you might as well do it right. The Company Kovac still take care of the rubbish containers. Sometimes I hear a tapping from them. I meant to inform the city treasurer, but he’s on holiday and has no deputy because the city is cutting back. But are rubbish containers hampers? No.
Notes from Guest Reader Christopher Allen
Having lived in the south of Germany for more than two decades, I was moved by how these micros reflect the refugee crisis becoming more and more personal.